
Ja, ihr ahnt es schon. Das wird kein angenehmer Blog-Eintrag. Ich hätte ihn schon Gestern Abend schreiben können, doch manchmal braucht man etwas Abstand, bevor man davon berichten kann.
Gestern Nachmittag hatte ich Karla aus der Kita abgeholt. Die eine Erzieherin erzählte mir noch, dass Karla jetzt schon Bescheid sagt, wenn sie „kaka“ (zuhause) bzw. „poopoo“ (in der Kita) macht. Sie wurde wie immer von einigen der anderen Kinder mit „Bye, Teddy“ oder „Bye, Karla“ unter viel Gewinke auf beiden Seiten verabschiedet. Es war schönes Wetter, die Sonne schien und der Schnee glitzerte. Wir fuhren noch zu Denise, Emma, Claire und Bruno, weil ich dachte, wir könnten etwas spazierengehen. Zuhause hatte ich Apfel-Bananen-Joghurtbrei und ein Teefläschchen vorbereitet, weil Karla nun immer mit großem Hunger und leerem Teefläschchen aus der Kita kommt. Als wir zu Denises Haus einbogen, frohlockte Karla schon „Ja, ja, ja!“ und nickt dazu mit dem Kopf. Bei Denise aß Karla den Brei und wollte danach malen. Bruno war gerade erst eingeschlafen und so fiel der Spaziergang aus. Also malte ich mit Karla, Claire und Emma gesellten sich dazu. Karla saß auf Emmas Hochstuhl, der über keinen Sicherheitsbügel oder Gurte mehr verfügt. Karla klettert auch gern allein hinauf. Ich saß die ganze Zeit neben ihr und achtete darauf, dass sie nicht herunterrutschte. Dann wollte sie Claire einen Stift geben. Claire nahm ihn, aber Karla ließ nicht los. Claire aber auch nicht. Und schon war es passiert. Ich hatte einen Moment lang nicht dem Arm am Stuhl und Karla war, sozusagen, am ausgestreckten Arm mit Stift, aus dem Stuhl auf das Parkett gerauscht. Hart hörte ich den Kopf aufprallen und machte einen Satz zu ihr hin, hob sie, den Kopf gestützt, auf und presste sie an mich, weil ich erwartete, dass sie jeden Moment laut losheulen würde. Sie ist hart im Nehmen, aber das schien und klang schmerzhaft gewesen zu sein. Nichts. Kein Weinen, kein Schreien. Ich hielt sie ein kleines Stück von mir weg, um ihr Gesicht sehen zu können. Ihr Mund war verzerrt, ihre Augen rollten nach oben, sie atmete nicht. Ich schrie sie an, schrie immer wieder „Karla, Karla, Karla“, pustete sie an und klopfte ihr auf den Rücken. Ihre Augen rollten nach oben, ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihr ganzer Oberkörper steif. Ich sagt zu Denise: Oh Gott, sie atmet nicht. Ich glaube, sie wird blau! Gerade als ich sie ablegen und Mund-zu-Mund/Nase beatmen wollte (keine Ahnung, ob das richtig gewesen wäre), fing sie endlich an zu Schreien und zu Weinen. Die Augen kehrten zurück und die Steife wich aus ihrem Körper. Ich sagte, ja, Karla, so ist gut, schön schreien! Emma und Claire sahen mich mit großen Augen an. Den Satz hatten sie sicher noch nicht gehört. Karla sah auf einmal völlig fertig aus. Die Augen blickten geschockt und starr, als können sie nicht begreifen, was gerade passiert war. Ich ging mit ihr auf dem Arm durch den Raum, vermied es aber, mit ihr zu wippen. Normalerweise beruhigt sich Karla immer schnell, wenn sie sich wehgetan hat oder aus einem anderen Grund aufgeregt ist. Doch nicht dieses Mal. Irgendwann sträubte sie sich gegen meine Umarmung und ich ließ sie hinunter. Sie machte ein paar Schritte und legte sich dann auf den Wohnzimmerteppich und rollte sich auf die Seite. Ich hatte gedacht, wenn sie sich gleich wieder beruhigt und nicht übergibt oder anders auffällig wird, fahre ich einfach mit ihr nach Hause. Aber sie wurde nicht ruhiger. Ich überlegte, was man wohl in der Notaufnahme mit ihr machen würde, was man zum jetzigen Zeitpunkt feststellen konnte. Man würde den Augenreflex testen, mich befragen, und mir wahrscheinlich sagen, ich solle sie beobachten und wiederkommen, wenn sie sich übergibt, ihr ansonsten Ruhe gönnen. Aber ich war durch ihr Verhalten so beunruhigt, dass ich beschloss in die nächstgelegene Notaufnahme zu fahren. Thomas konnte ich nicht erreichen. Denise konnte Frank nicht erreichen, damit dieser Thomas erreichen konnte. Typisch, wenn man mal einen Mann braucht, ist keiner da.
Anyway, dachte ich, er kann jetzt sowieso nichts machen und würde sicher ebenso entscheiden. Denise erklärte mir noch eben den Weg zu nächsten Notaufnahme, der über Karlas Gewimmer hinweg nicht leicht zu verstehen war. Sie gab mir noch mit auf den Weg, vorher zu fragen, ob sie meine Versicherung akzeptierten. Ein weiser Rat, denn das ist nicht selbstverständlich und als Claire letztens wegen einer Perle, die sie sich gedankenlos in die Nase geschoben hatte, in die Notaufnahme musste, bezahlten sie 100 Dollar Selbstbehalt. Ohne die „richtige“ Versicherung hätte es sie 700 Dollar gekostet – dafür dass eine Person zur Pinzette oder Pusterohr greift und zwei weitere Ärzte drumherumstehen. Ihr Rat kam mir in dem Moment absurd vor, doch ich beherzigte ihn und hatte Glück und die richtige Versicherung.

In den USA unterscheidet man in Fällen wie diesem zwischen dem Kinderarzt, der „Urgent Care“ und dem „Emergency Room“. Letzteres kennt ihr sicher alle aus dem deutsch-amerikanischen Fernsehen mit George Clooney. Was man da nicht sieht, ist das „Co-pay“, also was der Patient trotz Versicherung dazubezahlt. Bei unserer, schon recht guten Versicherung, sind das für die Anfahrt zum „Emergency Room“ pauschal 100 Dollar. Daher empfiehlt es sich, bei nicht lebensbedrohlichen Zuständen oder Zwischenfällen lieber erst einmal zur „Urgent Care“ zu fahren. Dort bezahlt man/bezahlen wir nur 25 Dollar dazu. Also fuhr ich dorthin. Zum Glück hatte ich mich soweit unter Kontrolle, dass ich nicht raste und die Ambulanz auch gleich fand. Ich fuhr nur falsch auf den Parkplatz, aber das hätte ich wahrscheinlich auch unter normalen Umständen zu spät bemerkt. Fieberhaft überlegt ich noch, was „Gehirnerschütterung“ auf Englisch heißt, aber es wollte mir nicht einfallen. Solch profaner Wortschatz kommt bei meinen täglichen Medizinübersetzungen auch nie vor...
Karla hatte sich inzwischen etwas beruhigt, schien aber immer noch unter Schock zu stehen. Ich trug sie hinein und stellte mich an einem Schalter an, der mit „InstaCare / Kids Care“ überschrieben war. Als ich dran kam, sagte ich gleich, dass meine Tochter soeben von einem Hochstuhl gefallen und kurz bewusstlos war. Das gab offenbar auch den Ausschlag dafür, dass wir aufgerufen wurden, noch bevor ich alle Papiere hatte ausfüllen können, was die Sachbearbeiterin nicht davon abhielt, mich drei Mal zu fragen, wie man „seinen“ Vornamen buchstabierte. Ich dachte, wer ist denn hier verwirrter – die oder ich?
Anyway, umringt von grünen Kitteln fing Karla gleich wieder an zu schreien. Ich musste sie auf die Waage legen (ich hätte ihnen auch sagen können, dass sie 30 Pfund wiegt!) Sie maßen Fieber (96 Grad Fahrenheit), nahmen die Sauerstoffsättigung (98 %) und den Puls (?). Alles im grünen Bereich. Man versicherte mir, dass es in Anbetracht des Unfalls ein gutes Zeichen sei, dass sie schreie. Das war mir auch klar, aber ich war ja wegen dem Teil hier, in dem sie nicht geschrien habe und weil sie sich nicht beruhigte und befürchtete, dass sie Schmerzen, also eine Verletzung, hat. Ich musste alles ganz genau beschreiben und detaillierte Fragen beantworten, was in der Fremdsprache gar nicht so einfach ist. Was she like jerky when she rolled up her eyes? Uh, I don't think so. Wie lange hat der „Ausfall“ gedauert? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber ich versuchte, mich objektiv zu erinnern, falls es so etwas gibt, und einigte mich mit mir selbst auf 5 bis 10 Sekunden. Ok, die Ärztin kommt gleich. Wir wurden in einen Behandlungsraum geschickt, eine nette Schwester trug uns Karlas Rucksack und ihre Jacke und Schuhe hinterher. Ich sollte Karla ausziehen und ihr ein Krankenhausleibchen anziehen. Ich versuchte, ganz normal mit Karla zu reden, um sie nicht noch mehr aufzuregen. Zwischendurch wimmerte sie auf meinem Arm immer wieder „Maaaami!“ und ich sagte ihr, dass ich da bin und auch nicht weggehe. „Karla willst du das hier anziehen?“ fragte ich sie in gespielt vergnügtem Ton, um ihr Interesse von der Krankenhausumgebung abzulenken. „Jaaa!“ wimmerte sie zurück und griff nach dem Leibchen mit Disney-Figuren darauf (Wer hat hier wohl gesponsert? Es lebe die private Krankenpflege). Ich zog es ihr aus Versehen mit der offenen Seite nach vorn an und dann kam auch schon eine Ärztin, die mich an eine Mathelehrerin erinnerte. Karla mochte sie spontan auch nicht und verstärkte ihr Geschrei wieder und klammerte sich an mich. So, you are German? Also nach kulturellem Austausch war mir gerade nicht. Yes, sagte ich nur knapp. Sie testete den Augenreflex, hörte die schreiende Karla ab, betastete ihren Bauch, schaute ihr in die Ohren und stellte dann fest, dass Karla eine Ohrentzündung habe. Ob sie in letzter Zeit Fieber gehabt habe. Häh? Nein. Tatsächlich war Karla immer gut drauf gewesen und hatte überhaupt keine Anzeichen für eine Ohrentzündung aufgewiesen, nicht mal ihre Rotze war gelb. Ob sie krank gewesen sei oder ist? Häh? Kleine Kinder haben immer eine laufende Nase, aber mehr habe sie nicht. Sie ist übrigens aus dem Hochstuhl gefallen. Ja, sie fragte dann auch noch einmal alles zum Hergang ab und als Karla weiterhin ihrer Ablehnung Ausdruck verlieh, meinte sie, sie komme wieder, wenn Karla sich etwas beruhigt habe. Sie wolle sie etwas beobachten (was hieß, dass ich sie beobachten sollte) und sie dann nochmals abtasten. Karla trank etwas Tee, wollte das Fläschchen nicht mehr hergeben, beruhigte sich, um dann wieder loszulegen und zu schreien. Ich ließ ihr das Fläschchen, ging mit ihr auf dem Arm durch den kleinen Raum – die Schleife blieb die Gleiche und die Ärztin kam nicht zurück. Also ging ich raus und rief den Krankenschwestern, die uns aufgenommen hatten zu, dass sie sich nicht beruhigt, bzw. immer wieder anfängt zu weinen, dass sie vielleicht Schmerzen habe. Ja, die Ärztin sei gerade bei einem anderen Notfall, und dass es gut sei, dass sie weinte und dass sie das wahrscheinlich nur tut, weil sie so erschrocken sei. Ich meint daraufhin nur, dass ich das auch sei. Ich fragte, ob man ein CT machen müsse. Ja, wahrscheinlich genau das. Wir gingen wieder hinein. Karla war nun immerhin so ruhig, dass ich mir den Einband eines Kinderbuches mit ihr ansehen konnte und sie auf meine Fragen (Wo ist der Zug?) auch antwortet. Dann kam endlich die Ärztin und betastete Karla noch ein wenig. Karla schrie, aber offenbar nur aus Verdruss und Ablehnung. Jedenfalls gab es am Ende ein Antibiotikumrezept gegen die Ohrenentzündung, das wir nach Belieben einlösen sollten, und die Meinung, dass ihr Ausfall aufgrund der Kürze wahrscheinlich auf keinerlei neurologische Schäden hindeutet (ganz so professionell hat sie es nicht formuliert). Sie meinte: Wahrscheinlich schläft sie gleich im Auto ein, aber falls sie sich doch nicht beruhigt, müssten Sie in den „Emergency Room“ fahren. Tolle Ansage, oder? Haben Sie noch Fragen? Äh ja, was ist, wenn sie sich erbricht? Auch ER oder hierher? Hierher. Und wir könnten ihr etwas Tylenol geben. Das kriegen hier alle Kinder gegen Schmerzen und Fieber und zur Beruhigung der Eltern. Der darin enthaltene Wirkstoff ist übrigens in Deutschland nicht zugelassen, aber gefährlich scheint es nicht zu sein. Wir geben Ibuprofen, wenn nötig.
Dann musste ich noch Papierkram erledigen und 25 Dollar Zuzahlung für meinen Sohn (in rosafarbener Jacke und mit rosafarbenen Stiefeln!) leisten und weg waren wir. Zuhause war Karla wieder besser drauf. Sie sah jetzt sehr müde, verweint und immer noch etwas geschockt aus. Aber sie sprach wieder und wimmerte nicht mehr. Als wir aus dem Auto stiegen, sagte sie „car“. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber es musste nach 17:30 sein, denn Thomas war schon zuhause. Ich setzte Karla gleich in ihren Abendbrotstuhl und Thomas meinte, sie hat wohl Hunger? Ich sagte nur, ja, wenn man aus der Notaufnahme kommt, kann man schon mal Hunger haben. Notaufnahme?
Nachts nahm ich sie mit zu mir ins Bett, denn sie wachte immer wieder auf und wimmerte „Maaaami“. Thomas war auf die Couch ausgezogen. Ich hätte sie auch so mit herübergenommen, weil ich Angst hatte, dass sie vielleicht doch eine Hirnblutung davongetragen haben könnte, auch wenn ich nicht gewusst hätte, was ich dann getan hätte, außer 911 wählen vielleicht. Zwischen 3 und halb 6 Uhr morgens, schliefen Karla und ich dann mal tief und fest...
Mir sitzt der Schreck noch immer in allen Gliedern und ich sehe mein kleines Mädchen immer noch, wie sie die Fäuste ballt und nicht atmet. Aber es geht ihr wieder gut. Es gab keinerlei Nachwirkungen und sie hat heute bei Denise auch nicht auf den Hochstuhl reagiert. Nur Denise und ich – wir haben sie (abwechselnd) nicht losgelassen, solange sie darauf saß. Dummerweise kann man nie wissen, in welcher Situation es als nächstes schlimm ausgehen kann. So ist das wohl mit Kindern. Ja, sagt Claire, und grinst mich durch ihre große Zahnlücke an.
...erinnert mich daran wie unsere Clara mit 4 aus 1,80 m vom Hochbett kopfüber auf's Parkett geknallt ist... und Christian mit dem kotzenden Mädchen eine Nacht in der Uniklinik verbracht hat...
AntwortenLöschenAber die sind zum Glück hart im nehmen die Kleinen ...
Alles Gute Euch weiterhin und hoffentlich keine Situationen, die schlim ausgehen, sondern nur positive Überraschungen mit Karla!
so was wollen wir nie durchmachen müssen
AntwortenLöschen... das beste war, dass Clara, nachdem sie und Christian ihr Zimmer zugewiesen bekommen haben und alle Untersuchungen erst mal abgeschlossen waren meinte: "Papa, du musst noch das Auto umparken, sonst schleppen sie das ab!" Also völlig klar im Kopf ...
AntwortenLöschenOh Mann, da hätt ich mir, glaub ich, in die Hose gemacht.
AntwortenLöschenoh je, ich hoffe euch geht es allen wieder besser!! Unsere Geschichte mit der Notfallambulanz und dem Pseudokruppanfall hab ich dir ja geschrieben...., aber Lucas hat seitdem die Augen nicht wieder verdreht, röchelt nicht mehr und isst auch wieder normal. Fühl dich fest gedrückt von uns!!
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